Friedens- und Sicherheitspolitik Online

Informations-Plattform zum tagespolitischen Colloquium am Otto-Suhr-Institut für Politikwissenschaft der Freien Universität Berlin im Wintersemester 2005/06

Freitag, November 11, 2005

Policy Empfehlungen zur Bewältigung des Kaschmirproblems

von Anja Mößner

Mit dem schweren Erdbeben vom 8. Oktober in Kaschmir ergeben sich neue Handlungsoptionen im militärischen Konflikt zwischen Indien und Pakistan. Bereits vor dem Beben zeichneten sich positive Signale ab. So wurde 2005 die erste direkte Busverbindung zwischen dem indischen und dem pakistanischen Teil Kaschmirs eingerichtet. Dennoch sind die Fronten im Kern weiter verhärtet, die Argumente ausgetauscht: Auch an der grundsätzlichen Situation hat sich seit der Teilung der Region 1949 nichts geändert. Im Folgenden sollen Empfehlungen gegeben werden, wie durch Handeln Europas bzw. der westlichen Welt im Allgemeinen die aus dem Beben resultierende Dynamik positive Entwicklung genutzt werden kann.

Regionale/transnationale Ebene
Der pakistanische Teil Kaschmirs wird als Raum begrenzter Staatlichkeit von einer Vielzahl regionaler Akteure verschiedenster Couleur beherrscht, darunter auch muslimische Kämpfer aus dem Ausland. Mit Dauer und Ansteigen des Gewaltpotenzials nimmt die Fraktionierung dieser Gruppen stetig zu. Einige regionale Akteure verdienen am Konflikt und/oder sind aus ideologischen Gründen nicht an einer diplomatischen Lösung interessiert. Diese regionalen Gruppen haben zum Teil ein großes Interesse, den Konflikt gerade nach dem Beben weiter eskalieren zu lassen, um einer Annäherung der beiden rivalisierenden Staaten entgegenzuwirken. Auf der anderen Seite haben die Akteure auf pakistanischer Seite auch weite Teile der Soforthilfemaßnahmen im Katastrophengebiet in Ermangelung staatlicher Handlungsfähigkeit übernommen. Dem pakistanischen Staat einfach nur Finanzmittel zur Verfügung zu stellen, ist kontraproduktiv, da der Staat mit dem sinnvollen Einsatz der Mittel überfordert wäre und anzunehmen ist, dass das Geld versickert, beispielsweise bei den Gruppen, die sowieso schon Kapital aus dem Gewaltmarkt des Konfliktes und der staatlichen Instabilität schlagen.
In Folge dessen sollten Möglichkeiten geprüft werden, welche staatlichen und nichtstaatlichen Strategien im Krisengebiet zu strukturelle Stabilität führen können. Dies könnte auch durch eine Stärkung der pakistanischen Regierung geschehen, wovon in Anbetracht des Demokratie- und Legitimationsdefizits aber abzusehen ist. Es sollte eine möglichst direkte Form der Hilfe gefunden werden. Ausländische Investoren ins Land zu locken, gestaltet sich allerdings schwierig: Die Region hat außer Textilien kaum interessante Wirtschaftgüter zu bieten. Hier müsste die internationale Gemeinschaft einspringen und Investitionen tätigen, wie etwa für Straßenbau oder Wasserkraftanlagen, um Arbeitsplätze zu schaffen, die Infrastruktur zu verbessern und die Versorgungsverhältnisse im allgemeinen zu verbessern. Hier bietet sich die EU als Unterstützer an. Sie ist der wichtigste Handelspartner Pakistans und könnte ihre Rolle an dieser Stelle ausbauen. Durchgeführt werden müssen diese Projekte von internationalen Unternehmen in Zusammenarbeit mit der lokalen Bevölkerung und unter dem Schutz von privaten Sicherheitsfirmen. Dies könnte die ökonomische Lage der Bevölkerung verbessern und ein psychologisch wichtiges erstes Gefühl von Sicherheit und Stabilität hervorrufen.

Zwischenstaatliche Ebene
Das Beben zwingt Indien und Pakistan zu bilateralen Gesprächen und Verhandlungen. Zudem kommen vermehrt ausländische Hilfskräfte ins Land, die somit auch politisch einen Fuß in der Tür haben. Dies ist ein guter Zeitpunkt, um einen unabhängigen Dritten als Mediator zwischen den Konfliktparteien einzuschalten. Diese Rolle könnte die EU ausfüllen, die an einer sicherheitspolitischen Stabilität der Region interessiert sein muss, ökonomische Anreizstrukturen bieten kann. Entsprechendes Vertrauen dürfte sich die EU in Pakistan bereits erworben, indem sie als Gegenleistung für den Einsatz im Kampf gegen den internationalen Terrorismus Zollerleichterungen zugestanden hat. Auf der anderen Seite treffen sich EU und Indien jährlich zu einem gemeinsamen Gipfel. Das jüngste Resultat ist die Erstellung eins „Aktionsplan für eine Strategische Partnerschaft“, womit die Beziehungen auf eine neue Basis gestellt wurden. Die EU steht somit mit beiden Konfliktparteien in regem diplomatischen Austausch und sollte das ihr entgegengebrachte Vertrauen nutzen, um in Dreier-Gespräche einzutreten, wobei sie ihren politischen und ökonomischen Einfluss darauf verwenden sollte, fühlbaren Druck auf die beiden Länder auszuüben.


Internationale Ebene
Der Kaschmirkonflikt findet in der europäischen und der westlichen Politik insgesamt kaum Beachtung. Nach dem Beben sollte aber neben den Sofortmaßnahmen noch ein zweiter tiefergehender Blick dorthin gerichtet werden: Das staatlich geschwächte Pakistan bietet dem internationalen Terrorismus einen fruchtbaren Boden. So übernehmen etwa Koranschulen die Aufgabe des staatlichen Schulsystems. Im Hinblick auf die Bekämpfung des internationalen Terrorismus ist hier verstärkte dauerhafte Entwicklungshilfe von Nöten, die soziale und wirtschaftliche Strukturen unterstützt bzw. überhaupt erst schafft. Damit soll zum einen die Indoktrinierung ganzer Generationen verhindert werden, zum anderen sollten an die Hilfsmaßnahmen Bedingungen geknüpft werden, die auf eine Demokratisierung des Landes abzielen. Die akute Nothilfe muss dagegen unabhängig von politischen Erwägungen im Interesse der Opfer erfolgen.