Friedens- und Sicherheitspolitik Online

Informations-Plattform zum tagespolitischen Colloquium am Otto-Suhr-Institut für Politikwissenschaft der Freien Universität Berlin im Wintersemester 2005/06

Mittwoch, Dezember 07, 2005

Gewaltmärkte und soziale Polarisierung in der Republik Sudan – ein „successfully failed state“?



Seit die Republik Sudan am 1. Januar 1956 de jure unabhängig wurde, ist es den vermeintlichen Zentralre-gierungen in der Hauptstadt Khartoum nie gelungen, ein Mindestmaß an Staatlichkeit für das gesamte Land zu gewährleisten. In dem größten Flächenstaat des afrikanischen Kontinents wird seit knapp fünfzig Jahren bis in das Jahr 2005 hinein mit variierender Intensität und mit variierenden regionalen Schwerpunk-ten Krieg geführt. Einzig zwischen 1972 und 1983 kam es zu einer Phase brüchiger Stabilität, die allerdings fast zwangsläufig in einen neuerlichen Kriegsausbruch mündete. Die Republik Sudan wird von einer multidimensionalen Konfliktlage beherrscht. In wechselnden Allianzen kämpfen Armee, Befreiungsbewe-gungen, Milizen und Banden gegeneinander. Der „Norden“ kämpft gegen den „Süden“, Gruppen im Nor-den kämpfen ebenso gegeneinander wie Gruppen im Süden, Christen gegen Christen und Muslime gegen Muslime. Auffallend sind u. a. der hohe Fragmentisierungsgrad der Konfliktparteien, der Gewaltaustrag innerhalb von Konfliktparteien bzw. zahlreiche „Frontwechsel“ sowie gefestigte Strukturen (illegaler) Ausbeutung (z. B. Zwangsarbeit, Schutzgelderhebungen, Plünderungen, etc.).


Wirtschaftliche wie auch militärisch-strategische Interessen der sudanesischen Eliten, aber auch externer Akteure aus Anrainerstaaten und Übersee, beeinflussen das Kriegsgeschehen in erheblichem Maße. Im Verlauf der Unabhängigkeitsgeschichte ist es den (quasi-)staatlichen Führungseliten im Sudan gelungen, das marode System in seiner extremen Ungleichheit stabil zu halten und sich defizitärer Staatlichkeit gezielt zur Durchsetzung ihrer Interessen zu bedienen. In diesem Sinne bezeichnet der französische Histo-riker Gérard Prunier das Land als „successfully failed state“. Immer wieder aufs Neue haben sich Gewalt-märkte herausgebildet, die wiederum einen wesentlichen Hinderungsgrund für Entwicklung und Ausübung einer stabilen Staatlichkeit darstellen.

Die kriegerischen Auseinandersetzungen im Sudan haben nahezu drei Millionen Menschen das Leben gekostet. Neben den unmittelbar bei Kriegshandlungen, Massakern und Massenvertreibungen Getöteten forderten (durch die Kämpfe verursachte) Hungersnöte die meisten Opfer. Nach Schätzungen des UNHCR liegt die Zahl der Flüchtlinge und Vertriebenen derzeit bei insgesamt rund fünf Millionen, was in etwa einem Siebtel der Gesamtbevölkerung des Landes entspricht. Über vier Millionen Menschen wurden in-nerhalb der Staatsgrenzen vertrieben – dem UNHCR zufolge die „weltweit größte Zahl an Binnenvertriebenen“ – weitere 600.000 Sudanesen und mehr sind außer Landes geflohen. Zahlreiche Quellen belegen zudem, dass die Praxis der Sklaverei im Sudan bis in die Gegenwart hinein zur Anwendung kommt.

Das (prä-)koloniale Erbe: Entwicklung des Zentrums-Peripheriegefälles im Sudan
Die Konflikte im Sudan sind geprägt von einem erheblichen Zentrums-Peripheriegefälle. Die Geschichte der Marginalisierung bzw. gezielten Ausbeutung großer Gebiete im Süden und Westen – insgesamt über zwei Drittel des Landes – reicht bis vor die „europäische“ Kolonialzeit zurück. Bereits im 18. Jahrhundert war das Gebiet des heutigen Sudans osmanisch-ägyptischer Herrschaft unterworfen, während der die Bevölkerung im Süden und Westen systematisch ausgebeutet wurde. Die britisch-ägyptischen Kolonialherren verfolgten dann zwischen 1899 und 1955 eine Herrschaftspolitik des divide et impera. Sie behandelten Nord- und Südsudan als zwei getrennte Blöcke, betrieben eine aktive Rassentrennung sowie ein weitgehendes Auseinanderdividieren der Verwaltung. Wirtschaftlich zeigte das Empire nur wenig Interesse am Sudan und bescherte dem Land eine extrem ungleiche Entwicklung, von der einzig die Kernregion rund um die Hauptstadt Khartoum profitierte.

Trotz der vorangetriebenen Zweiteilung entließ das britische Kolonialreich den Sudan schließlich als Ein-heitsstaat in die Unabhängigkeit. Der Herrschaftsapparat wurde ohne Blutvergießen an eine kleine nordsu-danesische Elite übergeben. Diese setzte die ungleiche Sozial-, Bildungs- und Wirtschaftspolitik der Kolo-nialregierung fort, nun freilich nicht mehr verbunden mit Rassentrennung sondern stattdessen mit Maßnahmen zur kulturellen Zwangsintegration. Schon die „Zweiteilung“ der sudanesischen Bevölkerung wäh-rend der Kolonialzeit war der tatsächlichen kulturellen Vielfalt des Landes (mit rund 600 ethnischen Grup-pen) nicht gerecht geworden. Die von den Führungseliten in Khartoum nach Ende der Kolonialzeit verfolgte Homogenisierungspolitik hat die soziale Polarisierung im Sudan dann aber noch weiter verschärft.

Erdöleinnahmen als zentrale Kriegsursache?
Die Entdeckung und Erschließung umfangreicher Ölvorkommen (rund 1% der globalen Reserven) hat die Konfliktlage im Sudan während des vergangenen Jahrzehnts weiter angeheizt. Einige Autoren halten Erdöl mittlerweile für die zentrale Kriegsursache im Sudan. Tatsache ist, dass die Regierung in Khartoum durch die Erdöleinnahmen ihre Militärausgaben drastisch erhöhen konnte, damit aber trotzdem keinen entschei-denden militärischen Vorteil gegenüber Rebellen und Milizen erlangt hat. Die Erdölgebiete befinden sich vorwiegend im Süden des Landes. Die wechselnden Regierungen waren im Verlauf der 80er Jahre darum bemüht diese Gebiete (u. a. mithilfe von angeworbenen Milizen) unter ihre Kontrolle zu bringen. Die dort lebende Zivilbevölkerung wurde enteignet, getötet oder vertrieben. Mehrere internationale Erdölkonzerne waren nicht nur durch die Breitstellung von Finanzmitteln beteiligt. Weiterer Konfliktstoff ergibt sich da-durch, dass bei der Erschließung des Erdöls zahlreiche Fremdarbeiter zum Einsatz kommen und Ökostan-dards kaum Beachtung finden.

Friedensabkommen zwischen Khartoum und der SPLA/M
Am 9. Januar 2005 wurde in Nairobi ein Friedensvertrag zwischen der vermeintlichen Zentralregie-rung und der SPLA/M (Sudanese People’s Liberation Army / Movement) unterzeichnet. Die Rechte an den sudanesischen Erdöleinnahmen sollen demnach zwischen der Regierung in Khartoum und einer südsudanesischen Regionalregierung aufgeteilt werden – ohne explizite Berücksichtigung der übrigen marginalisierten Regionen (wie etwa Darfur oder die Ostprovinzen). Am Zustandekommen dieses Abkommens waren außer den beiden genannten Konfliktparteien keine der weiteren bewaffneten Gruppierungen und Milizen beteiligt. Nach sechs Jahren Übergangszeit soll die Bevölkerung im Süden per Referendum über eine weitere Zugehörigkeit zur Republik Sudan bzw. alternativ über die Bildung eines autonomen Staates entscheiden. Über die Grenzziehung einer etwaigen Teilung des Landes wurde keine Einigung erzielt. Es ist zu bezweifeln, ob Khartoum eine Abspaltung des Süden tatsächlich hinnehmen würde.

Darfur
Die Entwicklungen im westlichen Grenzgebiet zum Tschad haben in den vergangenen zwei Jahren große internationale Aufmerksamkeit erfahren. Die Provinz Darfur mit rund fünf Millionen Einwohnern gehört zu den ärmsten Gebieten Sudans und sieht sich mit häufigen Dürrekatastrophen, überdurchschnittlichem Bevölkerungswachstum und zunehmend mit Landkonflikten konfrontiert. Als sich im Verlauf des Jahres 2003 eine mögliche Aufteilung der Erdöleinnahmen zwischen Khartoum und SPLA/M abzeichnete (s.o.), verstärkten zwei lokale Rebellenbewegungen in Darfur ihre Angriffe auf Stützpunkte der Regierungstrup-pen – die SLM/A (Sudan Liberation Movement / Army) und das JEM (Justice and Equaltiy Movement). Seitdem begehen Regierungstruppen und angeheuerte Milizen systematisch Massenvertreibungen, Zerstö-rungen und Plünderungen in der Region. Es ist unklar, inwieweit die Milizen noch von Khartoum kontrol-liert werden. Eine von der Europäischen Union (EU) mit finanzierte und technisch unterstützte Schutztruppe der Afrikanischen Union (AU) hat ihre Plangröße bis heute nicht erreicht. Nach wie vor wird von Ver-treibungen, Plünderungen und Überfällen auf Hilfstransporte in der Region berichtet.

Fragen an das Colloquium:
1) Was lässt sich aus dem Fallbeispiel Sudan bezüglich der Analyse von (defizitärer) Staatlichkeit ler-nen? Welche Formen von Gewaltoligopolen ersetzen das seit der Unabhängigkeit zu keinem Zeit-punkt intakte Gewaltmonopol?

2) Lassen sich (intuitiv) verschiedene Typen von Gewaltmärkten (verstanden als System der Gewaltre-gulierung) unterscheiden? Inwiefern variieren Qualität und Verhalten zentraler Konfliktakteure?

3) Die Entdeckung und Erschließung von Erdölvorkommen hat im Sudan wie zuvor bereits in einigen benachbarten Staaten (z. B. Nigeria oder Tschad / Kamerun) eher zu einer Konfliktverschärfung als zu Frieden und Entwicklung beigetragen. Welche Rolle spielen dabei die Erdölkonzerne und ihre Hei-matländer? Wie kann gegengesteuert werden? Sollte die Weltbank im Sudan – ähnlich wie bei dem Tschad-Kamerun-Erölprojekt – eine Mittlerfunktion bezüglich der Erdölerschließung übernehmen?

4) Überlagert der Kampf um Erdöleinnahmen im Sudan alle weiteren Konfliktursachen? Ist ein Stabili-sierungsprozeß auch unter Ausschluss / Isolierung einiger Regionen denkbar?

5) Inwiefern kann das gemeinsame Vorgehen von EU (als Geldgeber sowie Anbieter von technischem und logistischem Knowhow) und AU (als Truppensteller) in Darfur als Zukunftsmodell für externe Krisenintervention in Afrika angesehen werden? Muss das Vorgehen von AU und EU in Darfur enger mit der UN-Mission im Süden des Sudan verknüpft werden?

6) Wie lässt sich die über Jahrzehnte ausgebildete, vielfach instrumentalisierte gesellschaftliche Polari-sierung bzw. das tief verwurzelte Misstrauen im Sudan entschärfen?

Literaturempfehlungen zu aktuellen Entwicklungen im Sudan:
PETER, Marina (2004), Sudan
[schnelle Lektüre auf Deutsch; gut zum Einstieg]

ICG (2005a), The Khartoum-SPLM Agreement: Sudan’s Uncertain Peace
[Pflichtlektüre: Executive Summary and Recommendations]

ICG (2005b), The EU / AU Partnership in Darfur: Not yet a Winning Combination
[Pflichtlektüre: Executive Summary and Recommendations]

ICG (2004), Darfur Rising: Sudan’s New Crisis
[Pflichtlektüre: Executive Summary and Recommendations]

ICG (2003), Sudan’s Other Wars
[lesenswert zum besseren Verständnis der vielschichtigen Konfliktlage im Sudan]

ICG (2002), God, Oil and Country. Changing the Logic of War in Sudan
[bitte selektiv lessen!]

HRW (2003), Sudan, Oil and Human Rights
[bitte selektiv lessen!]

Und wer dann noch tiefer in die Materie einsteigen möchte, dem oder der sei als Ausgangspunkt die Ho-mepage vom diesjährigen Krisenspiel empfohlen: www.krisenspiel.de

Bearbeitet von Jan-Thilo Klimisch